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Interview Bertelsmann-Stiftung spielt Krankenversicherungspflicht für Selbstständige durch

Dr. Stefan Etgeton ist Senior Expert der Bertelsmann Stiftung. Wir haben uns mit ihm über die von der Stiftung beauftragte, vom IGES-Institut durchgeführte Studie „Krankenversicherungspflicht für Beamte und Selbstständige“ unterhalten.

Dr. Stefan Etgeton: "Wir wollten zeigen, dass ... eine Absenkung auf 450 Euro finanzierbar ist."

Die Studie untersucht, welche Effekte eine Senkung der hohen Kranken- und Pflegeversicherungs-Mindestbeiträge bei Selbstständigen hätte und zwar unter der Annahme, dass für Selbstständige wie bei Angestellten eine Versicherungspflicht in der GKV für Einkommen unterhalb der Versicherungspflichtgrenze (4.800 Euro/Monat) eingeführt würde.

Die Studie ist zu einer Zeit erschienen, in der u.a. im zuständigen Bundestagsausschuss für Gesundheit intensiv über eine Absenkung der Mindestbeiträge diskutiert wird.

Was war der Auslöser für Ihre Studie? Wie kamen Sie zu dieser Fragestellung?

Die Studie steht im Zusammenhang mit anderen Studien, die wir zusammen mit dem Verbraucherzentrale Bundesverband veröffentlicht haben. Wir sprechen uns für eine Zusammenführung der gesetzlichen (GKV) und privaten (PKV) Krankenversicherung aus. Dazu haben wir einen Zehn-Punkte-Plan erstellt.

In unserem Krankenversicherungssystem gibt es eine Segmentierung bezüglich Einkommenshöhe und Berufsgruppen. Wir haben uns gefragt, welche Effekte eine Aufhebung der Grenze entlang der Berufsgruppen hätte und haben diese für Selbstständige und Beamte simulieren lassen.


Jetzt mitzeichnen: Mit unserer Petition setzen wir uns für faire Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ein. Es ist nicht einzusehen, dass Selbstständige deutlich mehr zahlen als Arbeitgeber und -nehmer zusammen. Eine Gesetzesverschärfung zum 1.1.18 macht eine Reform noch dringlicher.


Sie sprechen dabei von einer „integrierten Krankenversicherung“. Ist das nicht dasselbe wie die Bürgerversicherung?

Die Bürgerversicherung ist gewissermaßen eine Ausprägung der integrierten Krankenversicherung. Zudem ist dieser Begriff parteipolitisch nicht so stark besetzt. Bei der Bürgerversicherung sind zwei Aspekte zu unterscheiden: Die Einbeziehung aller in das Versicherungssystem und die Heranziehung aller Einkommensarten (nicht nur des Erwerbseinkommens) in die Verbeitragung.

2013 haben wir die drei damals meistdiskutierten Modelle einer integrierten Krankenversicherung verglichen:

  1. Die erste Variante sieht eine Verbeitragung auch von Mieten, Zinsen etc. vor, wie es jetzt schon bei Selbstständigen der Fall ist – also die Bürgerversicherung im eigentlichen Sinne.
  2. Die zweite Variante verzichtet auf deren Verbeitragung und kompensiert dies durch einen höheren Bundeszuschuss aus Steuermitteln.
  3. Die dritte Variante ist ein Prämienmodell: Jeder zahlt den gleichen Beitrag. Wer ihn sich nicht leisten kann, erhält einen Zuschuss aus Steuermitteln.

Das erste und dritte Modell sind mit relativ viel Bürokratie verbunden, weil Miet- und Zinseinnahmen verbeitragt werden müssten bzw. eine Bedarfsprüfung stattfinden muss. Das zweite und dritte Modell ist verteilungsgerechter, weil die Finanzierung durch progressiv erhobene Steuern geschieht. Allerdings gilt die Pauschale, also Variante 3, als politisch tot, selbst innerhalb der Union war sie seinerzeit stark umstritten. Modell 2 ist deshalb unser Favorit. Die einzige Gefahr, die wir dabei sehen, ist ordnungspolitischer Natur: Der Staat hätte ähnlich wie bei der Rente relativ starken Einfluss auf die Einnahmengestaltung.

Was würde das für Selbstständige konkret bedeuten?

Es würde nur noch das Erwerbseinkommen, bei Selbstständigen also der Gewinn verbeitragt. Die Beiträge wären einkommensabhängig zwischen 450 Euro und der Bemessungsgrenze. Gut verdienende Selbstständige würden den Höchstbeitrag zahlen. Wer über der Versicherungspflichtgrenze verdient, könnte sich weiterhin privat versichern.

Sie sehen das aber als Zwischenschritt zur einer Versicherungspflicht für alle?

Ja, das könnte ein Schritt hin zu einer integrierten Krankenversicherung sein, in der sich dann auch diejenigen mit Einkommen über der Versicherungspflichtgrenze versichern müssten. Allerdings ist das nicht die viel gescholtene „Einheitsversicherung“, sondern es gäbe weiterhin verschiedene Krankenkassen, die um Service und Beiträge im Wettbewerb stünden – aber unter fairen Bedingungen. Diskutiert wird ferner über die Anhebung der Bitragesbemessungsgrenze auf das Niveau bei der Rentenversicherung (von 4.350 auf 6.350 Euro). Das böte die Chance, für alle die Beitragssätze zu senken. Eine Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze, wie derzeit von der Linken gefordert, wäre hingegen mit dem Äquivalenzprinzip schwer vereinbar, nach dem Beitrag und Leistung einen gewissen Zusammenhang aufweisen müssen. Anders als in der Rentenversicherung ist in der Krankenversicherung ja die Leistung unabhängig vom Einkommen.

Zurück zur ersten Ausbaustufe Ihres Modells: Privat Krankenversicherte dürften bzw. müssten in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln?

Zunächst ist wichtig zu verstehen, dass unser Modell der Berechnung von Effekten für GKV und Selbstständige dient. Es ist kein Umsetzungsszenario. In dem Modell gäbe es Pflichtwechsler, die unterhalb der Versicherungspflichtgrenze (4.800 Euro) verdienen. Sie müssten in die Gesetzliche wechseln. Und dann gäbe es diejenigen, die mehr verdienen, aber sehr hohe PKV-Beiträge zahlen und deshalb wechseln wollen, wir sprechen von Wahlwechslern.

Wie viele Selbstständige würden ihre Versicherung wechseln? Wie hoch wären die Mehr- bzw. Mindereinnahmen?

Wir gehen von 962.500 Pflicht- und 78.800 Wahl-Wechslern aus, das sind zusammen 1,04 Millionen. Das entspricht 71,6 Prozent aller bisher privat krankenversicherten Selbstständigen. (Vgl. Tabelle 7 der Studie.)

Das würde bezogen auf das Referenzjahr 2014 zu 5,45 Milliarden Euro Mehreinnahmen in der GKV führen, die Ausgaben würden nur um 3,61 Milliarden zunehmen. Die Krankenversicherungen würden ein Plus von 1,84 Milliarden Euro machen; allerdings würden die Selbstständigen um 1,68 Mrd. Euro belastet. (Vgl. Tabelle 12 und 13 der Studie.)

Und was kostet im Vergleich die Absenkung der Mindestbeiträge?

Durch eine Absenkung der Mindestbeitragsbemessungsgrenze auf 450 Euro würden die Selbstständigenhaushalte um 400 Millionen, durch eine vollständige Abschaffung um 700 bis 800 Millionen entlastet. Umgekehrt würde die GKV im ersten Fall mit 200 Mio. und im zweiten Fall mit 700 Mio. Euro belastet. (Vgl. Tabelle 17 der Studie.)

Linke und SPD haben eine Absenkung auf 450 Euro gefordert, die Grünen, IKK- und Ersatzkassen-Verband 991,67 Euro und der GKV-Spitzenverband 1.487,50 Euro. Haben sie die Kosten auch für diese Werte durchgerechnet?

Nein, diese Schwellenwerte haben sich erst vor kurzem in der Sitzung des Bundestagsausschusses ergeben. Die Mindereinnahmen für die GKV lägen in diesem Fall sicherlich niedriger. Wir wollten zeigen, dass mit unserem Modell eine Absenkung auf 450 Euro finanzierbar ist.

Uns ist bei der Untersuchung auch aufgefallen, dass das Fünftel mit dem niedrigsten beitragspflichtigen Einkommen, das fast die Hälfte seines Einkommens für die Krankenversicherungsbeiträge aufwenden muss, zumeist nicht zu Gerinverdiener-Haushalten gehört. Meist haben sie einen besser verdienenden Partner.

Wer keinen Partner mit höherem Verdienst hat, kann sich die hohen Beiträge aber auch in der Regel gar nicht leisten.

Viele Teilzeit-Selbstständige versuchen unter 425 Euro zu bleiben, weil sie dann noch mitversichert sind. Andere suchen sich eine Anstellung oder versichern sich über die KSK, um die Überforderung durch die hohen Mindestbeiträge zu vermeiden. Eine einkommensgerechte Verbeitragung könnte in diesen Fällen zu höheren Beitragseinnahmen führen. Haben Sie diesen Effekt untersucht?

Das ist richtig. Wir mussten dies aber außen vor lassen, denn wir haben eine volkswirtschaftliche Abschätzung vorgenommen und keine verhaltensökonomische Studie durchgeführt.

Teilzeit-Selbstständige mit niedrigem Einkommen werden von den hohen Mindestbeiträgen überfordert und brauchen dringend eine Erleichterung. Die Verknüpfung mit der Bürgerversicherung macht eine solche Entscheidung für die CDU/CSU aber inakzeptabel. Sollte man das nicht getrennt betrachten? Oder glauben Sie, dass die Union sich auf eine „integrierte Krankenversicherung“ einlässt?

Der Antrag der Linken, der eine Absenkung der Mindestbeiträge völlig unabhängig von Forderungen nach einer Bürgerversicherung fordert, ist der Union ja sehr weit entgegen gekommen.

Aber vielleicht geht die Union ja bei einer solchen Regelung im Rahmen der Dualität mit, wenn man auf der anderen Seite die Interessen der PKV und ihrer Versicherten ausreichend berücksichtigt. Stichworte sind Beitragsanpassungen, Öffnungsklausel etc. Solche Deals haben bei den Koalitionsverhandlungen vor vier Jahren auf dem Tisch gelegen, es kam aber zu keiner Verständigung.

Selbstständige müssen aus ihrem Gewinn den Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil bezahlen. Diese Zahlungen sind aber nur zum Teil steuerlich absetzbar und Selbständige mit mittlerem Einkommen zahlen bereits den Spitzensteuersatz. Bei Einführung einer Bürgerversicherung ergeben sich für sie Grenzbelastungen von 60 bis 65 Prozent. Das liegt auch daran, dass der Gewinn als Bemessungsgrundlage deutlich über dem Bruttogehalt von Arbeitnehmern liegt.

Dass eine Grenzbelastung von über 50 Prozent nicht sehr motivierend wirkt, kann ich nachvollziehen. Vielleicht müsste man überlegen, eine andere Bemessungsgrundlage zu ermitteln, die sich stärker am Arbeitnehmerbrutto orientiert. Bei unserer Studie sind wir vom Gewinn als Bemessungsgrundlage ausgegangen.

Wenn eine Million Selbstständige und dann auch noch Beamte in die Gesetzliche wechseln, was wird dann aus der PKV?

Wir sehen eine Regelung für die Selbstständigen allenfalls als Übergangsphase. Die Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht auf Beamte wäre in der Tat der Übergang in eine integrierte Krankenversicherung. Diese sieht vor, dass es keine private Vollversicherung mehr gibt.

Die PKV hat erkannt, dass ihr Geschäftsmodell in Gefahr ist und wehrt sich verständlicherweise. Aber die Bedrohung der PKV hat nicht nur politische, sondern vor allem ökonomische Ursachen, z.B. die Niedrigzinspolitik der EZB. Sie kann aber künftig weiterhin Zusatzversicherungen anbieten. Im Unterschied zur Vollversicherung boomt dieser Markt ja.

Gegebenenfalls können die privaten in gesetzliche Krankenversicherungen umgewandelt werden. Wenn eine Versicherung ihre Beiträge einkommensabhängig erhebt, am Risikostrukturausgleich teilnimmt, jeden Antragsteller versichern muss, dann ist es keine private Versicherung mehr, sondern eine gesetzliche. Ob Krankenkassen dann noch Körperschaften des öffentlichen Rechts sein müssen oder zumindest auch in anderen Rechtsformen existieren können, müsste in diesem Zusammenhang geklärt werden.

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