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Interview „Wir fühlen uns beim Kunden wie Aussätzige - und die Aufträge gehen ins Ausland“

Der Hamburger Diplom-Informatiker Martin Claussmann (50, Name geändert) hat sich vor 15 Jahren als IT-Freiberufler und SAP-Spezialist selbstständig gemacht. Im Interview berichtet er, was er von der geplanten Rentenversicherungspflicht hält und zu welchen Auswirkungen die Rechtsunsicherheit beim Thema Scheinselbstständigkeit führt: Aufträge von deutschen Freelancern werden gekündigt, die Aufträge statt dessen ins Ausland vergeben.

Deutsche Freelancer verlieren ihren Job, die Aufträge gehen statt dessen nach Polen

Argument fehlender Altersabsicherung ist ein Vorwand

VGSD: Die Politiker argumentieren, dass wir Selbstständigen nicht ausreichend für unser Alter vorsorgen und wollen uns deshalb in die gesetzliche Rentenversicherung zwingen. Welche Erfahrungen hast Du denn bei Deiner Altersvorsorge gemacht?

Martin: Ich habe 20 Jahre in die Rentenversicherung einbezahlt. Monatlicher Rentenanspruch nach einem Versorgungsausgleich wegen Scheidung: 367 Euro. Ich zahle aber in eine Rürup-Rentenversicherung ein, die ja speziell für Selbständige entwickelt wurde und wo ich in guten Jahren mehr zurücklegen kann, in schlechten weniger. Außerdem habe ich noch weitere Verträge abgeschlossen, um mich im Alter abzusichern. Gut 20 Prozent meines Einkommens lege ich so an. Wenn ich jetzt statt dessen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen muss, kommt unter dem Strich eine deutlich niedrigere Rente heraus. Der Vorwand der fehlenden Altersabsicherung bei Selbstständigen ist eine Farce.

VGSD: Was schlägst Du stattdessen vor?

Martin: Sollte eine Versicherungspflicht kommen, bin ich für ein Befreiung ab einem bestimmten Alter bzw. bei Nachweis einer ausreichenden privaten Altervorsorge. Eine Absenkung der Krankenversicherungs-Mindestbeiträge finde ich sehr gut, auch wenn es mir persönlich leider nichts nützen würde, wenn ich mal eine schwierige Auftragslage hätte oder in Teilzeit arbeiten müsste: Ich bin nämlich privat krankenversichert.

Alle externen Mitarbeiter gekündigt und Aufträge nach Osteuropa vergeben

Souvenire aus Warschau

VGSD: Dich beschäftigt aber vor allem das Thema Scheinselbstständigkeit bzw. zu was das bei den Auftraggebern führt, oder?

Martin: Ja, das größte Problem ist für mich die unsichere Lage für die Unternehmen, die mich für Projekte buchen. Einer meiner Kunden hat in einem Fachbereich fast allen Externen die Verträge gekündigt und im Gegenzug über eine Warschauer Unternehmensberatung polnische Freelancer beauftragt. Problem gelöst: Kein Ärger mit dem deutschen Staat.

VGSD: Und was passiert mit den deutschen Freelancern?

Martin: Wir fühlen uns wie Aussätzige. Originalton aus einem Powerpoint-Folie: „Anleitung für externe Mitarbeiter in Deutschland“:

  • Kein direkter Mailkontakt, nur über Kontaktpersonen (die dann den ganzen Schriftverkehr verteilen müssen)
  • Keine Zutrittsausweise (nur täglich zu erstellende Besucherausweise)
  • WLAN-Zugang muss bei jedem Besuch von einem Internen beantragt werden
  • Keine Arbeitsräume oder -plätze
  • Nicht zu viel persönlicher Kontakt
  • Interne dürfen nur Statusabfragen stellen wie „fertig“ oder „nicht fertig“, keine Testergebnisse oder Änderungen besprechen, diese dürfen nur im zugeordneten Ticket beschrieben werden.

Die Kommunikation zum Kunden ist komplett unterbrochen

VGSD: Wie wirkt sich das in der Praxis aus?

Martin: Das führt dazu dass man als Externer nie weiß, wann der Fachbereich das fertiggestellte Produkt getestet hat. Rückfragen gehen den selben Weg, der Fachbereich weiß nie, wann ich etwas angepasst habe.

Die Kommunikation zum Kunden ist komplett unterbrochen. Das ist wie wenn ich ein Haus bauen möchte, darf mit dem Architekten aber nur über unsere jeweiligen Anwälte per Brief in Kontakt treten. Folge: Das Haus wird auf diese Weise nie fertig. Der Kunde lässt es dann eben von ausländischen Baufirmen ohne Kommunikationsprobleme bauen.

Und so geht es weiter. Viele Interne waren sehr unsicher, wie sie mit uns umgehen sollen. Eine interne Kollegin hat sich mit mir auf dem Gang unterhalten, danach meinte ihr Vorgesetzter zu ihr „Jetzt haben wir uns aber eben in einer rechtlichen Grauzone bewegt“. Wie sollen wir unter solchen Bedingungen unsere Aufträge erfüllen?

Klar, sehe ich ein, wenn gewisse Unterscheidungskriterien eingehalten werden müssen, um als selbstständig zu gelten, zum Beispiel, dass man ein eigenes Büro hat oder wo immer möglich eigene Arbeitsmittel verwendet. Aber wir zahlen hier in Deutschland unsere Steuern, jetzt wandert das Geld ins Ausland, das kann doch nicht der Sinn dieser Gesetzgebung sein?

In Zeitarbeit gedrängt: Wie viele Lohnsteuerkarten darf ich maximal haben?

VGSD: Hat man auch versucht, Dich in Zeitarbeit zu drängen?

Martin: Ja, auch das ist mir schon passiert. Bei der letzten Akquise bekam ich ein Angebot für ein Projekt, aber in Form zeitlich befristeter Anstellung, mit festgelegten Arbeitszeiten, Urlaubsantrag und Sozialversicherung. Was aber, wenn ich mehrere Kunden habe, deren schwankenden Anforderungen ich unter einen Hut bringen soll? Und wieviel Lohnsteuerkarten darf ich maximal haben?

VGSD: Was ist Dein Fazit?

Martin: Das wir in einem Sozialstaat alle etwas beisteuern müssen, finde ich auch gerecht, keine Frage. Dass aber viele Arbeitslose vor Jahren in die Ich-AG geschubst wurden und jetzt plötzlich unter dem Vorwand einer unzureichenden Altersvorsorge ihrer mühsam aufgebauten Existenz wieder beraubt werden sollen, finde ich eine Unverschämtheit. Es muss ein Arbeitsmodell geben wo wir Selbständige auf Projektbasis unser Know How anbieten können, ohne Angst haben zu müssen als scheinselbständig deklariert zu werden. In der IT-Branche ist es nun mal nicht wie bei einem Schreiner, der die gedrechselte Kommode abliefert und sagt „fertig, so haben sie diese bestellt“.

Wenn ich ein Haus baue, stelle ich den Maurer ja auch nicht an

Häuserfassaden in der Warschauer Altstadt

VGSD: Worin bestehen die Unterschiede?

Martin: In einem Projekt ändern sich aufgrund der Vielzahl der beteiligten Personen und Prozesse die Aufgaben permanent und ohne Absprache mit dem Kunden haben wir keine Möglichkeit, unsere Aufgaben, auf die wir spezialisiert sind, zu erfüllen. Wenn ich z.B. in einer Gärtnerei den Verkaufsraum erweitern möchte stelle ich doch auch keinen Mauerer ein und bezahle den (mit Urlaub, Krankengeld etc.) bis das Haus fertig ist und danach entlasse ich ihn wieder, mit allen arbeitsrechtlichen Konsequenzen wie Abfindung, Kündigungsfrist usw.

Nein, ich kaufe stattdessen seine Arbeitsleistung für einen bestimmten Zeitraum ein und danach brauche ich ihn nicht mehr. Genau das macht ein Unternehmen, das wie in meiner Branche eine neue Software einführt: Sie braucht Spezialisten für eine gewisse Zeit für bestimmte Prozesse, danach nicht mehr. Aber seit die DRV mit der Inquisition begonnen hat haben viele Unternehmen einfach Angst, die Leistungen in Deutschland einzukaufen. Diese Unsicherheit muss beendet werden, sonst werden sehr viele bisher gut bezahlte Selbständige arbeitslos und die Aufträge werden ins Ausland vergeben - nach Rumänien, Bulgarien, Indien, Malaysia usw.

VGSD: Was muss sich ändern?

Martin: Es muss eine klare Regelung geben für Selbstständige die nur für eine bestimmte Zeit auf einem oder mehreren Projekten sind, damit die Unternehmen unsere Vorteile gegenüber ausländischen Wettbewerbern wie Erreichbarkeit, Kundennähe, Sprache, Fachwissen im deutschen und europäischen Wirtschaftsraum usw. auch nutzen können. Und zwar ohne Angst vor Nachforderungen des Staates auf ein Honorar, das doch absolut angemessen und fair ist und auf jeden Fall für die soziale Absicherung ausreicht.

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