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Lesetipp Rückgang um mehr als drei Viertel Anteil Solo-Selbstständiger bei Lieferdiensten nicht höher als in Gesamtwirtschaft

Die EU hat ihre strenge (in Deutschland noch umzusetzende) Plattform-Richtlinie mit fragwürdigen Zahlen begründet. Eine IAB-Studie zeigt: Der Anteil von Solos bei Lieferdiensten hatte zuvor bereits stark abgenommen und entspricht dem Durchschnitt.

Der Anteil der Solo-Selbstständigen an den Lieferdienst-Beschäftigten (grün) hat sich zwischen 2012 und 2021 um drei Viertel reduziert und liegt jetzt auf dem Durchschnittsniveau in Deutschland (blau)

Seit Jahren erscheinen regelmäßig Berichte in den deutschen Medien, illustriert mit Bildern von Fahrradkurieren. Die Zahl der Plattform-Beschäftigten würde stark zunehmen, es handle sich dabei mehrheitlich um Solo-Selbstständige, die von den Plattformen ausgebeutet würden. Die Journalisten stützen sich dabei auf Zahlen der EU-Kommission, wonach im Dezember 2021 in den Mitgliedsstaaten 28 Millionen Menschen für Plattformen tätig waren, mehrheitlich als Solo-Selbstständige, von denen wiederum 5,5 Millionen scheinselbstständig seien. Die Zahl der Plattformarbeitenden würde zudem bis zum Jahr 2025 auf 43 Millionen steigen.

EU begründete Richtlinie mit extrem hoher Zahl solo-selbstständiger Plattform-Beschäftigter

Heruntergerechnet auf Deutschland bedeuten diese Zahlen 6,7 Millionen Plattformbeschäftigte und 1,3 Millionen Scheinselbstständige im Jahr 2021. Das wären drei Mal so viele Plattformbeschäftigte, wie es Solo-Selbstständige gibt, und hätte bedeutet, dass zwei Drittel der in Deutschland arbeitenden Solo-Selbstständigen tatsächlich scheinselbstständig sind.

Trotz aller Hinweise von uns und unseren Mitgliedern an Journalist/innen, dass die EU-Schätzungen völlig unplausibel sind und die meisten Lieferdienst-Beschäftigten und auch Mietwagen-Fahrer in Deutschland angestellt sind, wurden die Zahlen weiter verbreitet – stets illustriert mit Fotos von Fahrradkurieren. Im März 2024 einigten sich die EU-Staaten auf einen faulen Kompromiss und beschlossen die EU-Richtlinie. Innerhalb von zwei Jahren, also spätestens nächstes Jahr muss die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt werden.

In Deutschland waren zu diesem Zeitpunkt 96 Prozent der Lieferfahrer angestellt

Nun zeigt eine Studie des zur Bundesagentur für Arbeit (BA) gehörigen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), wie sich die Zahl der Lieferdienst-Beschäftigten und der Anteil der Solo-Selbstständigen daran zwischen 2012 und 2021 tatsächlich entwickelt hat. Die wichtigste Quelle der Forscher war der Mikrozensus, in dessen Rahmen jedes Jahr repräsentativ unter anderem  Angestellte und Selbstständige befragt werden. Dabei wird die Lieferdienstbranche insgesamt betrachtet, wobei Plattformunternehmen, insbesondere seit 2020, eine wichtige Rolle spielen. Für ihre Auswertungen erhielten die Autoren zudem Zugang zu Sozialversicherungsdaten der BA, die alle abhängig Beschäftigten von zehn bedeutenden App-basierten Lieferdiensten in Deutschland umfassen. Ihre Arbeit wurde vom Bundesarbeitsministerium (BMAS) finanziell gefördert, genauer gesagt von der zum Ministerium gehörigen Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft.

Eines ihrer wichtigsten Ergebnisse, das die Autoren direkt in der Einleitung ihres Studienberichts im IAB-Forum hervorheben, ist Folgendes: "Im Jahr 2021 waren mehr als 95 Prozent der Lieferdienstfahrer/innen abhängig beschäftigt."

Studien-Befunde widersprechen Gleichsetzung von Plattformarbeit mit Solo- und Scheinselbstständigkeit

Weiter heißt es im Studienbericht: "Die selbstständige Erwerbsarbeit war dagegen nicht nur anteilig, sondern auch in absoluten Zahlen tendenziell rückläufig: 2021 waren von über 80.000 Erwerbstätigen in der Lieferdienstbranche nur gut 3.000 Personen solo-selbstständig. (...)

Die Arbeit bei App-basierten Lieferdiensten wird in der öffentlichen Debatte häufig mit Solo-Selbstständigkeit oder gar Scheinselbstständigkeit verbunden. Die hier präsentierten Befunde zeigen allerdings, dass der Großteil der Erwerbstätigen in der Lieferdienstbranche abhängig beschäftigt ist. Zudem ist der Anteil an Solo-Selbstständigen in dieser Branche zwischen 2012 und 2021 deutlich zurückgegangen und hat sich auf einem ähnlichen Niveau wie auf dem Arbeitsmarkt insgesamt eingependelt. Die absolute Zahl der Solo-Selbstständigen bei Lieferdiensten hat tendenziell ebenfalls abgenommen und damit auch die potenziellen Fälle von Scheinselbstständigkeit – zumindest in diesem Teilbereich der Plattformökonomie."

Mehr Lieferdienst-Beschäftigte – weniger Solo-Selbstständige

Die Zahl der Lieferdienst-Beschäftigten hat in der Folge der Corona-Krise stark zugenommen, der Anteil der Solo-Selbstständigen darunter (grün) ist klein und hat deutlich abgenommen

Zwischen 2012 und 2019 lag die Zahl der Lieferdienst-Beschäftigten relativ konstant bei 30.000 bis 35.000 (vgl. Abbildung links). Diese arbeiteten noch größtenteils außerhalb der Plattformökonomie. In den Corona-Jahren 2020/21 stieg die Zahl der Erwerbstätigen in der Lieferdienstbranche dann stark an. "Dieser Zuwachs ist allerdings auf einen Anstieg der abhängigen Beschäftigung zurückzuführen."

Während die Abbildung links die Entwicklung der absoluten Beschäftigtenzahlen zeigt, stellt die Abbildung ganz oben den relativen Anteil der Solo-Selbstständigen unter den Lieferdienst-Mitarbeitenden und an der Gesamtwirtschaft dar. Die bei 16 Prozent beginnende und auf vier Prozent sinkende grüne Linie zeigt, dass der Anteil der solo-selbstständigen Lieferfahrer vor dem Siegeszug von App-basierten Diensten relativ hoch lag. Allerdings waren schon damals fünf von sechs Mitarbeitern fest angestellt. Der Anteil der Solos nahm dann ab 2018 ab, besonders stark im Jahr 2019. "Der starke Zuwachs von Erwerbstätigen bei Lieferdiensten ab 2020 ist durch abhängig Beschäftigte getrieben", wie es in dem Studienbericht heißt. 

Entsprechende Hinweise auf einen rückgängigen Anteil von Solo-Selbstständigen hatten schon frühere, stärker qualitative Untersuchungen gegeben. Allerdings fehlten bis zur hier besprochenen IAB-Studie aussagekräftige Zahlen. Diese liegen nun vor.

Die Abbildung ganz oben zeigt, wie stark auch der Anteil der Solo-Selbstständigen an den Erwerbstätigen insgesamt zurückgegangen ist, laut Grafik von etwa sieben auf vier Prozent!

Gründe und Umfang des Rückgangs

Als Grund für den Rückgang in der Lieferbranche weisen die Autor/innen der Studie auf ein Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) hin, das im Dezember 2020 überraschend app-basierte Crowdwork als scheinselbstständig einordnete. Wie die Grafik ganz oben zeigt, begann die Verunsicherung allerdings schon deutlich vor Bekanntwerden des Urteils.

Man kann das Fazit ziehen, dass die vom BMAS und der Deutschen Rentenversicherung (DRV) über viele Jahre hinweg geschaffene Rechtsunsicherheit verhindert hat, dass die zusätzlich ca. 45.000 bis 50.000 Lieferdienst-Beschäftigten zu einem höheren Anteil als Solo-Selbstständige eingesetzt wurden. Ausgehend von dem Anteil ihrem 16 Prozent im Jahr 2012 und den heute 80.000 Beschäftigten würde es sonst heute knapp 13.000 statt gut 3.000 solo-selbstständige Lieferfahrer/innen geben. 

Sollte es nicht um höhere Einkommen und soziale Absicherung gehen?

Die Forscher stellen auch die Frage, ob die abhängige Beschäftigung, die stattdessen entsteht, so viel besser ist. Sie weisen dazu auf zwei, 2024 und 2025 erschienene IAB-Studien hin, in denen festgestellt wurde, dass knapp die Hälfte der Beschäftigten von Lieferdiensten auf Minijob-Basis tätig sind und somit nicht die vollen Vorteile einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung genießen. Die Fluktuation in der Branche sei hoch, was an unangenehmen Arbeitsbedingungen und geringen Löhnen liege.

Wie groß ist also der Erfolg bei den Arbeitsbedingungen, der auf Kosten der Rechtssicherheit von Selbstständigen erzielt wurde?  Und wie hoch waren die Kosten für diesen Erfolg? Rechtfertigen die erreichten Vorteile die Nachteile? Und was bedeutet das für die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Plattformarbeit, die nun ansteht und die Rechtsunsicherheit voraussichtlich in vielen Branchen weiter erhöhen wird? Bitte nutze die Kommentarfunktion und sage uns deine Meinung.

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