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Lesetipp Geplante Richtlinie zur Plattformarbeit Auf diese wackligen Zahlen stützt sich das Gesetzesvorhaben der EU

In der EU arbeiten 28,3 Millionen Menschen für digitale Arbeitsplattformen, von ihnen könnten 5,5 Millionen scheinselbstständig sein – diese Zahlen sind Ausgangspunkt der geplanten EU-Richtlinie zur Plattformarbeit. Aber wo kommen sie eigentlich her?

Kein Gesetzesvorschlag ohne Folgenabschätzung: So lautet ein Prinzip der EU-Gesetzgebung. Bevor die EU-Kommission einen Entwurf einbringt, muss sie umfangreiche Studien erstellen lassen, die die Voraussetzungen und möglichen Auswirkungen eines Gesetzes ausloten. Diese Folgenabschätzung (impact assessment) liefert die Argumentationsgrundlage für das Gesetzgebungsverfahren.

EU-Richtlinie zur Plattformarbeit: Unübersichtliches Zahlenmaterial

Auch der geplanten Richtlinie zur Plattformarbeit, für die die Kommission ihren Entwurf im Dezember 2021 vorlegte, liegt eine solche Folgenabschätzung zugrunde. Ihr entstammen die Zahlen, mit denen seitdem argumentiert wird: "Heute arbeiten über 28 Millionen Personen in der EU über digitale Arbeitsplattformen. Im Jahr 2025 wird diese Zahl voraussichtlich auf 43 Millionen ansteigen", heißt es in der Begründung des Gesetzesvorschlags. Und an späterer Stelle: "Einer Schätzung zufolge könnten bis zu 5,5 Millionen Menschen, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiten, dem Risiko einer falschen Einstufung des Beschäftigungsstatus ausgesetzt sein."

Zwei Drittel aller Solo-Selbstständigen scheinselbstständig?

28 Millionen Plattformbeschäftigte? 5,5 Millionen Scheinselbstständige? Nimmt man an, dass sich die Gruppen entsprechend der Zahl der Erwerbstätigen gleichmäßig auf die 27 EU-Staaten verteilen, entfielen auf Deutschland 6,7 Millionen Plattformbeschäftigte und 1,3 Millionen Scheinselbstständige. Das wären mehr als dreimal so viel Plattformbeschäftigte, wie es Solo-Selbstständige gibt (nämlich knapp zwei Millionen). Zwei Drittel aller Solo-Selbstständigen wären scheinselbstständig. Sind das realistische Zahlen?

Die Schwierigkeit beginnt damit, dass es zu dem Beschäftigungsfeld "Plattformarbeit" keine Arbeitsmarktstatistik gibt. Weder die EU noch die Nationalstaaten ermitteln Werte auf diesem Gebiet. Wer sich ein Bild über das Ausmaß der Plattformökonomie machen will, kann keine vorhandenen Statistiken auswerten, sondern muss Daten neu erheben. Und dafür erst einmal festlegen, was er unter Plattformarbeit versteht. Hier lauert also eine gewisse Gefahr des Zirkelschlusses: Während in der Richtlinie erst noch definiert werden muss, was Plattformarbeit überhaupt ist, müssen als Grundlage für das Gesetzesvorhaben Zahlen erhoben werden, für die vorher jemand entschieden hat, was als Plattformarbeit betrachtet wird. Andererseits: Die Alternative wäre, das Gesetzesvorhaben ganz ohne Zahlenbasis anzugehen.

Vermutlich hohe Werte durch Online-Befragung

Die Kommission hat den Auftrag zur Datenerhebung an das litauische Politikberatungs-Institut PPMI vergeben. Das PPMI hat seinen Bericht im Oktober 2021 vorgelegt. Wie die Zahlen erhoben wurden, erläutert das Institut in den Anhängen zur Studie. Das PPMI führte Internet-Umfragen in neun Ländern durch, von diesen wurde auf die gesamte EU hochgerechnet. Die neun Länder waren: Litauen, Dänemark, Deutschland, Niederlande, Polen, Rumänien, Frankreich, Italien und Spanien. In diesen Ländern wurden jeweils mehr als 1000 Menschen befragt, die Gesamtzahl der Befragten lag bei 10.938. Die Autoren der Studie weisen selbst darauf hin, dass die Zahl der Plattformbeschäftigten in der Studie zu hoch ausfallen könnte, weil diese online durchgeführt wurde: "Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass in einer Online-Studie Menschen überrepräsentiert sind, die online arbeiten."

Überhaupt ist auffällig, wie sehr die Wissenschaftler betonen, welche Unwägbarkeiten die Studie enthält. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die Zahlen zu hoch ausfallen könnten, am oberen Ende eines möglichen Bereichs liegen oder weit gefasst seien.

Mit ein paar Stunden im Monat ist man Plattformbeschäftigter

Weit gefasst ist zunächst einmal, dass die 28,3 Millionen "Plattformbeschäftigten" alle Personen einschließen, die angegeben haben, häufiger als sporadisch für Plattformen zu arbeiten. "Sporadisch" bedeutet seltener als einmal im Monat – alles darüber ist erfasst, also nicht nur diejenigen, die Plattformarbeit als ihre Haupterwerbsquelle benannten. Ein paar Stunden im Monat reichen aus, um zu den 28 Millionen zu zählen.

"Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Zahlen obere Schätzwerte darstellen, basierend auf einer Dreiecksmessung mit verfügbaren Daten aus der Verwaltung", heißt es in der Studie über die Zahl von 28,3 Millionen Plattformbeschäftigten. Beispielsweise seien im zweiten Quartal 2020 in Frankreich 141.000 Kleinstunternehmer im Transport- und Liefersektor gemeldet gewesen. Die entsprechende Zahl für 2021 in der PPMI-Umfrage liegt bei 505.000 Personen – also mehr als dreimal so hoch. Der Liefersektor sei in der Zeit der Pandemie stark gewachsen, außerdem seien in den offiziellen Zahlen nicht diejenigen erfasst, die bei den Plattformen angestellt seien oder ohne Registrierung arbeiteten. Es sei deshalb davon auszugehen, dass die offiziellen Zahlen zu niedrig seien – während es wahrscheinlich sei, dass die Studie die Zahl "wahrscheinlich überschätzt".

Schätzung der "möglichen Obergrenze"

Auch bei der Schätzung der Zahl der falsch Klassifizierten betont die Studie, wie schwierig diese zu ermitteln ist. Daten seien weder auf EU- noch auf nationaler Ebene vorhanden. Die Zahl der falsch Klassifizierten mit der durchgeführten Umfrage zu bestimmen, könnte "nicht unbedingt die verlässlichsten Daten hervorbringen, auch wenn eine große Zahl von Messgrößen mitberücksichtigt wird". Man habe sich bemüht, die Zahl einzugrenzen, schreiben die Autoren der Studie.

Zu den dann ermittelten 5,5 Millionen Personen, die dem Risiko der Fehlklassifizierung ausgesetzt seien, heißt es, nicht alle von ihnen müssten notwendigerweise falsch klassifiziert sein. Das hänge von den nationalen Gesetzen und den individuellen Umständen ab. Jedoch seien die Kriterien hilfreich, um "die mögliche Obergrenze der Zahl der Personen, die dem Risiko der Fehlklassifizierung ausgesetzt sind, zu schätzen".

Mit Zurückhaltung macht man keine Politik

"Mögliche Obergrenze", "sehr schwierig zu schätzen" – der Text liest sich wie eine dauernde Warnung, mit wie viel Vorsicht die Zahlen zu genießen sind. Schade nur: Die Einschränkungen der Forschenden sind in der Studie geblieben – in die Politik haben es nur die reinen Zahlen geschafft. Hier wird eben von 28 Millionen Plattformbeschäftigten und möglicherweise 5,5 Millionen Menschen mit falschem Beschäftigungsstatus gesprochen – ohne den Hinweis darauf, dass die Zahlen wahrscheinlich zu hoch liegen.

Hier kannst du in die Erläuterungen zur Studie selbst reinlesen. Siehst du die Herangehensweise ähnlich kritisch? Wenn du in Medien-Artikeln wieder einmal auf die 28 Millionen Plattformbeschäftigten und die 5,5 Millionen Scheinselbstständigen stößt, hilf uns gerne, kommentiere dort und weise auf unseren Artikel hin!

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