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Überraschendes BAG-Urteil Crowdworker können angestellt sein!

Ein 52-jähriger aus Wesel hat vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG, Aktenzeichen 9 AZR 102/20) erfolgreich gegen die Münchener Crowdworking-Plattform Roamler  geklagt. Von dieser bekam er über einen Zeitraum von 11 Monaten eine Vielzahl kleiner Aufträge (insgesamt fast 3.000), kontrollierte zum Beispiel für Hersteller, ob Einzelhändler und Tankstellen die ihnen zur Verfügung gestellten Werbemittel auch wirklich einsetzten.

Mystery shopping ist eine häufige Aufgabe von Gigworkern. Gemeint ist damit hier die Kontrolle des Werbemitteleinsatzes im Einzelhandel

Fast 20.000 Euro erzielte er mit dieser Tätigkeit im Jahr 2017 bevor Roamler nach einem Konflikt mit ihm die Zusammenarbeit im Februar 2018 per E-Mail beendete.

Gamification wurde als Weisung gewertet

Er klagte mit Unterstützung der Gewerkschaft ver.di auf Anstellung und unterlag zunächst in erster und zweiter Instanz. Er sei selbstständig, weil er die Aufträge ja nicht hätte annehmen müssen und sie auch in zeitlicher Hinsicht selbstbestimmt hätte abarbeiten können, so die Urteile.

Das BAG kam jetzt überraschend zu einem ganz anderen Urteil: Die von Roamler via App vergebenen Micro-Tasks würden sich erst nach Erreichen eines bestimmten "Level" lohnen, hierzu müsse man regelmäßig für die Plattform tätig sein. Diese "Gamification" führe zu einem Überwiegen der Fremdbestimmung und damit zu einem Angestelltenverhältnis. In der Pressemitteilung des BAG zum Urteil heißt es hierzu:

"Für ein Arbeitsverhältnis spricht es, wenn der Auftraggeber die Zusammenarbeit über die von ihm betriebene Online-Plattform so steuert, dass der Auftragnehmer infolge dessen seine Tätigkeit nach Ort, Zeit und Inhalt nicht frei gestalten kann. So liegt der entschiedene Fall. Der Kläger leistete in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit.

Zwar war er vertraglich nicht zur Annahme von Angeboten der Beklagten verpflichtet. Die Organisationsstruktur der von der Beklagten betriebenen Online-Plattform war aber darauf ausgerichtet, dass über einen Account angemeldete und eingearbeitete Nutzer kontinuierlich Bündel einfacher, Schritt für Schritt vertraglich vorgegebener Kleinstaufträge annehmen, um diese persönlich zu erledigen.

Erst ein mit der Anzahl durchgeführter Aufträge erhöhtes Level im Bewertungssystem ermöglicht es den Nutzern der Online-Plattform, gleichzeitig mehrere Aufträge anzunehmen, um diese auf einer Route zu erledigen und damit faktisch einen höheren Stundenlohn zu erzielen. Durch dieses Anreizsystem wurde der Kläger dazu veranlasst, in dem Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts kontinuierlich Kontrolltätigkeiten zu erledigen."

Bisher galten Plattform-Arbeiter immer als selbstständig

Die sozialrechtliche Beurteilung war nicht Gegenstand des Verfahrens. Unmittelbare Folge ist voraussichtlich die Lohnfortzahlung in "üblicher Höhe" bis zum Zeitpunkt der arbeitsrechtlichen Kündigung. Die hatte Roamler ein Jahr später, im Juni 2019, sicherheitshalber zusätzlich ausgesprochen.

Bisher waren Arbeitsrechtler der Ansicht, dass Plattformarbeiter grundsätzlich selbstständig sind. Nun ist klar: Abhängig von der genauen Ausgestaltung der Tätigkeit kann sehr wohl auch eine Scheinselbstständigkeit vorliegen. Die Plattformen werden voraussichtlich Gamificationelemente und damit Mitarbeiterbindung verändern, um dem BAG-Urteil gerecht zu werden und Mitarbeiter weiter frei beschäftigen zu können.

Plattform-Beschäftigung gerät wieder stärker in den Fokus

Durch das höchstrichterliche Urteil gerät das Thema Plattformarbeit wieder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Offenbar in Erwartung eines positiven BAG-Urteils hatte Arbeitsminister Heil erst vor wenigen Tagen Eckpunkte für eine Regulierung von Plattformarbeit vorgestellt, an der das BMAS schon seit langem arbeitet.

Auf Antrag der Linken-Fraktion hatte es am Montag letzter Woche eine Anhörung im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales zum Thema gegeben, zu dem VGSD-Vorstand Andreas Lutz als Sachverständiger eingeladen war und zahlreiche Fragen beantwortete. Er sagte u.a., dass Plattformarbeiter seiner Ansicht nach sehr wohl Angestellte sein könnten, dass dabei aber stärker als bisher ihre sozial Schutzbedürftigkeit berücksichtigt werden sollte.

Es besteht die Befürchtung, dass mit dem Argument, es handle sich um Plattformarbeit, auch über das Internet vermittelte hochqualifizierte selbstständige Tätigkeit pauschal als scheinselbstständig eingeordnet werden könnte, was viele fair honorierte  Selbstständige gegen ihren Willen quasi zu Zwangsangestellten machen würde.

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