Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) fordert sechsstellige Nachzahlungen wegen angeblicher Scheinselbstständigkeit sogar für Sachverhalte, die vor dem Herrenberg-Urteil lagen. Die Übergangslösung des BMAS schütze erst für Beauftragungen ab dem 1. März 2025.
Statt branchenübergreifend für eine rechtssichere Statusfeststellung zu sorgen, hat das Bundesarbeitsministerium (BMAS) immer wieder neue Insellösungen geschaffen: Für Notärzte, Coronaärzte, Poolärzte und zuletzt Honorar-Lehrkräfte. Ihre Gemeinsamkeit: Die immer extremer werdende Urteilspraxis zur Scheinselbstständigkeit machte es in diesen Fällen unmöglich, den öffentlichen Versorgungsauftrag zu erfüllen, zunächst im medizinischen, dann im Bildungsbereich. Wo es "lediglich" um die internationale Wettbewerbsfähigkeit privater Auftraggeber ging, wurde das Ministerium dagegen bisher nicht tätig. Ob das mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Artikel drei Grundgesetz) vereinbar ist, diskutieren wir an anderer Stelle.
Untergehende Insel(-lösungen)
Aber selbst diese Insellösungen bieten keinen dauerhaften Schutz. Eine Kollegin hat sie treffend als "untergehende Inseln" bezeichnet. Die Bereitschaftsärzte (zu denen die Poolärzte) gehören, will die schwarz-rote Koalition nun ganz von der Sozialversicherung befreien. Zu bürokratisch und unpraktikabel war wohl das Verfahren, das sich das Ministerium im Rahmen eines Dialogprozesses mit Beteiligten überlegt hatte.
Der Dialogprozess zum Herrenberg-Urteil war ungleich aufwändiger. Er dauerte ein halbes Jahr, bestand aus vier Fachgesprächen mit dem zuständigen Staatssekretär und unzähligen Sitzungen in sechs Arbeitsgruppen teils online, teils im BMAS. Auch der VGSD und zahlreiche BAGSV-Verbände waren beteiligt. Hauptbestandteil waren Diskussionen mit der DRV über deren Kriterien bei Honorarlehrverträgen.
Der Herrenberg-Dialogprozess, wie wir ihn erlebt haben
Die pointierte Zusammenfassung: Das Einhalten gesetzlicher und branchenüblicher Vorgaben (z. B. in Form von Lehrplänen) wird von der DRV als starkes Kriterium für eine abhängige Beschäftigung gewertet. Das was Auftraggeber und -nehmer mit viel zusätzlicher Bürokratie im Sinne der Rentenversicherung umgestalten können, bringt wenig Pluspunkte. Das, was eigentlich die Selbstständigkeit von Lehrkräften ausmacht, wie z. B. ein höheres Honorar als angestellte Lehrkräfte, eine eigenverantwortliche Altersvorsorge oder Aufträge mehrerer Bildungsanbieter, wird gar nicht berücksichtigt.
Wofür wir als VGSD uns, unterstützt von anderen Verbänden, eingesetzt haben: eine branchenübergreifende Gesetzesreform, die zu praxisnahen Kritierien führt. Was das BMAS im Rahmen des Dialogprozesses äußerstenfalls bereit war zu geben: eine Übergangsregelung, die Auftraggebern und -nehmern temporär Schutz vor der Anwendung des Herrenberg-Urteils bieten sollte.
Lex Herrenberg
Tatsächlich gelang es, in der letzten Sitzungswoche des alten Bundestags Ende Januar 2025 eine Übergangsregelung auf den Weg zu bringen und auch noch vom Bundestag beschließen zu lassen – im Rahmen eines laufenden Gesetzgebungsvorhabens "zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer politischer Verfolgung in der ehemaligen DDR".
Ergebnis dieses Kraftakts ist der am 1. März 2025 in Kraft getretene § 127 SGB IV, auch genannt "Lex Herrenberg".
Zwei Bedingungen für die Selbstständigkeit: Parteiwille und noch mal Parteiwille
Der erste Absatz enthält zwei Bedingungen, nämlich dass "1. die Vertragsparteien bei Vertragsabschluss übereinstimmend von einer selbstständigen Tätigkeit ausgegangen sind und 2. die Person, die die Lehrtätigkeit ausübt, zustimmt."
(Bedingung 1 wird in der Praxis dadurch erfüllt, dass eben gerade kein Arbeitsvertrag, sondern ein Vertrag über eine selbstständige Lehrtätigkeit abgeschlossen, Rechnungen gestellt und bezahlt wurden. Bedingung 2 erfordert eine möglichst explizite, schriftliche Zustimmung, die übrigens jederzeit rückwirkend widerrufen werden kann, so die unten ausführlicher zitierten Autoren Zieglmeier und Rittweger.)
Was unter diesen Bedingungen für Status und Beitragspflicht gilt
Unter diesen beiden Bedingungen tritt bei Feststellung einer abhängigen Beschäftigung im Rahmen eines SFV oder einer Betriebsprüfung eine "Versicherungspflicht aufgrund dieser Beschäftigung erst ab dem 1. Januar 2027 ein". Und auch wenn keine solche (Status-)Feststellung stattfand, "tritt bis zum 31. Dezember 2026 keine Versicherungs- und Beitragspflicht aufgrund dieser Beschäftigung ein".
Im zweiten Absatz heißt es dann: "Sofern die Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind, gelten ab dem 1. März 2025 bis zum 31. Dezember 2026 die betroffenen Personen als Selbstständige im Sinne der Regelungen zur Versicherungs- und Beitragspflicht für selbständig tätige Lehrer nach dem Sechsten Buch." In § 2 SGB VI ist gleich im ersten Satz geregelt, dass "Lehrer und Erzieher, die im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Tätigkeit regelmäßig keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen", rentenversicherungspflichtig sind.
Wie die DRV die Übergangsregelung interpretiert
Die DRV hat sich intern mehrere Wochen damit beschäftigt, wie der neue § 127 zu bewerten ist. Bei einer der ersten Entscheidungen, in der der neue Paragraph nun zum Tragen kommt, ging es um mehrere Lehrkräfte und eine Nachzahlung im sechsstelligen Bereich. Der Sachbearbeiter der DRV schreibt:
"hat die Beklagte [die DRV] den Schriftsatz der Klägerin vom xx.02.2025 zur Kenntnis genommen. Die in § 127 Abs. 1 SGB IV genannte Übergangsregelung entfaltet keine Rückwirkung. Sie gilt gemäß Abs. 2 Satz 1 für den Zeitraum vom 01.05.2025 bis 31.12.2026. Insofern ergeben sich keine Auswirkungen auf das hiesige Verfahren."
Der Sachbearbeiter meinte vermutlich nicht den 1. Mai, sondern den 1. März 2025 – so wie es im zweiten Absatz des § 127 steht. Dieser entfalte für die Zeit davor keine Schutzwirkung. Es bleibe also bei der Nachzahlung von 3xx.xxx Euro, die die DRV zuvor bereits festgestellt hatte.
Was der Gesetzgeber bezweckt hat, ist überhaupt nicht eingetreten
Der Rentenberater des Trainingsinstituts zum VGSD: "Genau das haben wir befürchtet: Was der Gesetzgeber mit diesen ganzen Verhandlungen eigentlich bezweckt hat, nämlich die Auftraggeber zu schützen, ist leider überhaupt nicht eingetreten. Es gibt keinen wirksamen Vertrauensschutz für die Vergangenheit. Die bereits laufenden Fälle werden von der DRV als abhängig beschäftigt beschieden."
Bei dem vorliegenden Fall geht es um eine Beauftragung, die vor dem Herrenberg-Urteil lag. Damals verließen sich Auftraggeber auf das "Gitarrenlehrer-Urteil" aus dem Jahr 2018, das in mehrerlei Hinsicht zu gegensätzlichen Ergebnissen kam wie das Herrenberg-Urteil.
Der Rentenberater: "Die DRV hat unseren Fall lange liegen lassen. Von einer Untätigkeitsklage habe ich abgesehen, um die DRV nicht zu verärgern, man ist ja extrem auf ihr Wohlwollen angewiesen. Sie hat sich dann in dem Moment gemeldet, als das Herrenberg-Urteil vorlag und damit völlig andere Kriterien. Dabei lagen alle Sachverhalte zeitlich vor dem Herrenberg-Urteil. Das ist schon eine richtig harte Nummer."
Wie zwei NZA-Autoren die Übergangsregelung interpretieren
Ganz anders als die DRV sehen es die beiden Sozialrichter Christian Zieglmeier und Stephan Rittweger in ihrem gerade erschienenen Aufsatz in der Neuen Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA 7/2025, Seite 462 ff.): "Die Übergangsregelung [...] gilt auch für die Vergangenheit, selbst für die Musikschule in Herrenberg ist 'Geld zurück' möglich. Selbstständige Lehrer hingegen sind ab 1.3.2025 in der Beitragspflicht."
Der § 127 SGB IV enthalte keine Stichtagsregelung. Er solle ja gerade Nachforderungen verhindern. "Somit gilt die Neuregelung auch für die Vergangenheit, denn andernfalls liefe sie ins Leere. Mangels Stichtagsregelung erfasst § 127 I SGB IV alle beendeten, laufenden sowie beitragsrechtlich noch nicht abgeschlossenen Tätigkeitsverhältnisse." Die Norm gelte auch für alle Neuverträge, die bis 31.12.2026 abgeschlossen werden.
Die Herrenberger Musikschule könnte die von ihr bezahlten Beiträge zurückfordern
Selbst bei abgeschlossenen, bestandskräftig beschiedenen Lehrtätigkeiten greife der § 127: "Dadurch wäre es selbst für Herrenberg eröffnet, für die Vergangenheit, vor Vertragsumstellungen gezahlte Beiträge auf Antrag zurückzuerhalten." Die Stadt Herrenberg bzw. deren städtische Musikschule könnte also sogar die Beiträge für die von ihr beauftragte und vom BSG als abhängig befundene Musiklehrerin zurückfordern – bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie sie dann tatsächlich angestellt habe.
Möglich sei dies durch den § 44 SGB X, der im Sozialrecht dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit Vorrang vor dem Grundsatz des Rechtsfriedens gebe und so die nachträgliche Aufhebung von Bescheiden und selbst rechtskräftigen Entscheidungen des BSG ermögliche.
Selbstständig Lehrende ab 1. März 2025 beitragspflichtig
Die Datumsangabe "1. März 2025" im zweiten Absatz des § 127 SGB IV bezieht sich Christian Zieglmeier und Stephan Rittweger zufolge auf die Beitragspflicht der selbstständigen Lehrer/innen. Erteilen sie gemäß Absatz 1 ihre Zustimmung, dass eine selbstständige Tätigkeit vorlag, greift ab 1. März 2025 die Rentenversicherungspficht des § 2 SGB VI für Lehrer. Zugleich bedeute die Formulierung eine Amnestie für die Rentenbeiträge, die sie als selbstständige Lehrer eigentlich schon vorher hätten leisten müssen. Die Autoren verweisen hierzu auf die Gesetzesbegründung, in der es heiße: "Nachforderungen von Beiträgen für die vergangenen Zeiträume erfolgen jedoch nicht."
Wenn es tatsächlich so ist, wie die beiden Richter schreiben, ermöglicht die Übergangsbestimmung einen sauberen Neuanfang: Durch die Zustimmung gemäß § 127 ermöglicht der Auftragnehmer eine rechtssichere selbstständige Weiterbeauftragung bis Ende 2026. Hat er bisher keine Rentenversicherungsbeiträge abgeführt, sollte er dies rückwirkend zum 1. März 2025 tun. Sollte das Honorar das Abführen von 18,6 Prozent Rentenversicherungsbeitrag von der Höhe her nicht zulassen, sollte dies zum Anlass für eine Neuverhandlung des Honorars genommen werden. Künstler und Publizisten, die in der KSK pflichtversichert sind, werden dieser Verpflichtung in aller Regel schon in der Vergangenheit nachgekommen sein.
Extrem widersprüchliche Interpretationen
Es ist erstaunlich, zu welch widersprüchlichen Ergebnissen DRV und Sozialrichter auf Basis des gleichen Gesetzestextes kommen. Hätte man das Gesetz weniger missverständlich formulieren können? Das BMAS hat die Beteiligten am Dialogprozess um offene Fragen zur Übergangsregelung gebeten und einen FAQ angekündigt, der die häufigsten Fragen beantwortet. Unser Beitrag zeigt, wie dringlich dieser FAQ ist, mit dessen Veröffentlichung wir kurzfristig rechnen. Wir informieren hier, sobald er erschienen ist.
Es braucht branchenübergreifende Rechtssicherheit statt Insellösungen
Vor allem aber hoffen wir darauf, dass die neue Koalition nach der Kanzlerwahl im Mai schnell ins Handeln kommt und die/der künftige Arbeitsminister/in schnell die im Koalitionsvertrag angekündigte wirksame Reform des Statusfeststellungsverfahrens vorlegt, die Insellösungen künftig überflüssig macht. Darauf ist auch der Bildungsbereich angewiesen, denn alle Honorarlehrkräfte anzustellen, ist keine realistische Option. Es braucht Rechtssicherheit deutlich vor dem Auslaufen der Übergangsregelung.
Zieglmeier und Rittweger schreiben hierzu: "Für viele Bildungsträger wird aber der Einsatz selbstständiger Lehrer weiterhin unverzichtbar sein. Für beides muss Platz bleiben. Dafür bedarf es rechtssicherer Abgrenzungskriterien."
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