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Lesetipp Sieben Jahre Rechtsstreit mit der DRV "Man darf sich nicht unterkriegen lassen"

In diesem Fall steckt alles drin: unklare Rechtslage, fragwürdiges Verhalten der DRV, Desinteresse der Politik an Selbstständigen – und ein guter Ausgang. Nach sieben Jahren Rechtsstreit und vier Klagen möchte unser Mitglied Bernd Oppolzer anderen Selbstständigen Mut machen.

VGSD-Mitglied Bernd Oppolzer

Nach mehr als 30 Jahren Selbstständigkeit kommt im Frühjahr 2016 ein Bescheid, der die Welt von Bernd Oppolzer ins Wanken bringt: Er sei ein arbeitnehmerähnlicher Selbstständiger, schreibt ihm die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV), und das schon seit 2011, also seit fünf Jahren. Womöglich auch schon länger, doch weiter konnte die DRV nicht zurückgehen, weil der Zeitraum davor verjährt war. Ebenfalls im Brief: eine happige Nachforderung an Rentenversicherungsbeiträgen für diese fünf Jahre. Als Bernd nicht zahlt, trifft zwei Monate später ein weiterer Brief der DRV ein. Auf drei Seiten listet die Mahnung minutiös die monatlichen Beträge über fünf Jahre auf. Der geforderte Gesamtbetrag hat sich noch einmal um fast ein Drittel erhöht, weil Säumniszuschläge obendrauf geschlagen wurden: Fast 45.000 Euro soll Bernd auf einen Schlag zahlen.

Ausschnitt aus der Mahnung der DRV vom Mai 2016. Der vollständige Brief ist im Text verlinkt.

Seit 1983 arbeitet Bernd selbstständig als Diplom-Informatiker. Er habe sich schon 1999 an seine Krankenversicherung gewandt, um zu klären, ob das mit seiner Selbstständigkeit alles so weiterlaufen könne. Er habe Einzelverträge und mehrere Kunden, "alles easy", habe die Auskunft gelautet, erzählt Bernd. Deshalb habe er sich auch keine Sorgen gemacht, als er 2015 – wieder einmal – für ein Kontenklärungsverfahren der DRV seine Verträge einreichte.

Kostspielige arbeitnehmerähnliche Selbstständigkeit

Doch die DRV kam diesmal zu dem Schluss: Bernd habe seit 2011 auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber gearbeitet. Damit wäre Bernd zwar nicht scheinselbstständig, aber ein arbeitnehmerähnlicher Selbstständiger nach § 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI. Rein finanziell gesehen ist das für Bernd schmerzhafter als Scheinselbstständigkeit. Denn bei Scheinselbstständigkeit – die hätte vorgelegen, wenn Bernd wie ein Arbeitnehmer ins Unternehmen eingegliedert gewesen wäre – zahlt der Auftraggeber die Sozialversicherungsbeiträge. Als arbeitnehmerähnlicher Selbstständiger muss Bernd seine Rentenversicherungsbeiträge selbst zahlen – rückwirkend und in voller Höhe alleine. Sein Auftraggeber muss nichts zahlen.

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - §  2 Selbständig Tätige

Versicherungspflichtig sind selbständig tätige

  1. Lehrer und Erzieher, die im Zusammenhang mit ihrer selbständigen Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen,

(2. - 8.)

  1. Personen, die
    a) im Zusammenhang mit ihrer selbständigen Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen und
    b) auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind; bei Gesellschaftern gelten als Auftraggeber die Auftraggeber der Gesellschaft.

Sieben Jahre und vier Klagen später weiß Bernd: Auch er musste für die meiste Zeit keine Rentenversicherungsbeiträge zahlen. Doch der Weg dahin war mühsam und hat ihn zeitweise fast verzweifeln lassen. Nun möchte er seine Geschichte mit anderen VGSD-Mitgliedern teilen, um das teilweise krude Verhalten der DRV öffentlich zu machen. "Man muss kämpfen und darf sich nicht unterkriegen lassen", sagt Bernd.

"Üble Falle": Säumniszuschläge

Nachdem er den Bescheid erhalten hatte, nahm er sich einen Anwalt und legte Widerspruch ein. Heute ist er froh, dass er sich von Anfang an mit Unterstützung wehrte: "Man sollte früh zum Anwalt gehen." Der erste Schritt des Anwalts war, die DRV dazu zu bringen, auf die Säumniszuschläge zu verzichten. Das dauerte eine ganze Weile und brauchte viele Briefe und Telefonate des Anwalts. Am Ende war wohl ausschlaggebend, dass Bernd die geforderten Beiträge – aber eben ohne Säumniszuschläge – zahlte, sowohl für die Vergangenheit als auch von da an. Selbstverständlich "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht", wie Juristen in solchen Fällen dazuschreiben.

Die Säumniszuschläge vermieden zu haben, sieht Bernd als weiteren wichtigen Schritt. "Säumniszuschläge sind eine üble Falle", sagt er. Was er damit meint: Selbst im Falle eines juristischen Sieges sind diese nur schwer wiederzubekommen. Sie gelten als zusätzliche Abgabe, nicht als Teil der (möglicherweise doch nicht zu leistenden) Beiträge. Bernds Glück war, dass er die Beiträge vorläufig zahlen konnte, ohne finanziell in Bedrängnis zu geraten. "Das ist natürlich nicht leicht, wenn es finanziell knapp ist", sagt er.

Wertvoll: ein vorsorglich gestellter Antrag

Für den Fall, dass die Einstufung als arbeitnehmerähnlicher Selbstständiger bestehen bleiben sollte, beantragte der Anwalt im Juni 2016 vorsorglich die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für die ersten drei Jahre nach § 6 Absatz 1a Satz 1 Nr. 1 SGB VI – auch das erwies sich später als kluger Schachzug.

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - § 6 Befreiung von der Versicherungspflicht

Absatz 1a

Personen, die nach § 2 Satz 1 Nr. 9 versicherungspflichtig sind, werden von der Versicherungspflicht befreit

  1. für einen Zeitraum von drei Jahren nach erstmaliger Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit, die die Merkmale des § 2 Satz 1 Nr. 9 erfüllt,
  2. nach Vollendung des 58. Lebensjahres, wenn sie nach einer zuvor ausgeübten selbständigen Tätigkeit erstmals nach § 2 Satz 1 Nr. 9 versicherungspflichtig werden.

Im Februar 2017 klagte Bernd vor dem Sozialgericht Stuttgart gegen die DRV. Fast vier Jahre zog sich das Verfahren hin. Das Urteil erging im November 2020. Neun Jahre von Bernds Berufsleben, die Zeit von 2011 bis 2019, wurden hinsichtlich der Auftraggeber durchleuchtet, und es kamen verschiedene Aspekte zum Tragen.

Zwar nur ein Auftraggeber, aber nicht auf Dauer angelegt

Ab 2019 hatte Bernd eindeutig mehrere Auftraggeber, deswegen galt er ab da nicht mehr als Arbeitnehmer-ähnlich. Von 2011 bis 2014 hatte er vor allem zwei Auftraggeber. Die A-AG und die B-GmbH gehörten jedoch zum selben Konzern. Mit der Argumentation, dass die beiden Unternehmen unabhängig voneinander zu betrachten seien, kam Bernd nicht durch. Sie seien so eng miteinander verbunden, dass sie als ein Auftraggeber anzusehen seien, entschied das Gericht. Dennoch zeigte sich die Richterin wohlwollend: Die einzelnen Aufträge seien zeitlich befristet gewesen und es sei ungewiss gewesen, ob Bernd nach dem Auslaufen eines Einzelvertrages einen weiteren Auftrag erhalten würde. Deshalb habe Bernd in diesen Jahren zwar im Wesentlichen, aber nicht auf Dauer nur einen Auftraggeber gehabt.

Es blieben von den neun Jahren also noch die vier Jahre von 2015 bis 2018, in denen Bernd tatsächlich nur einen Auftraggeber vorweisen konnte. Mit diesem hatte er auch einen Rahmenvertrag abgeschlossen, so dass das Verhältnis auf Dauer angelegt war. Nur: Warum entsteht daraus überhaupt eine Versicherungspflicht? Was ist der Sinn der Vorschrift?

Welche Schutzbedürftigkeit?

Das Gericht schreibt im Urteil: "Wer ohne versicherungspflichtigen Arbeitnehmer selbstständig tätig wird, ist typischerweise nicht in der Lage, so erhebliche Verdienste zu erzielen, dass er sich außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung absichern könnte, und damit nach seiner wirtschaftlichen Lage sozial schutzbedürftig." Da ist offensichtlich wieder der prekär gedachte Solo-Selbstständige im Spiel, der mit seinem Verdienst kaum über die Runden kommt – ein Bild, von dem Bernd sich überhaupt nicht angesprochen fühlt. "Erstens fühle ich mich nicht schutzbedürftig nach all den Jahren, und wieso endet die Schutzbedürftigkeit plötzlich, wenn ein zweiter – kleiner – Kunde dazukommt?"

Für Bernds Versicherungspflicht griff dann die im Juni 2016 beantragte Befreiung für die restliche Zeit mit nur einem Auftraggeber bis Ende 2018. Am Ende blieben knapp anderthalb Jahre, für die Bernd rentenversicherungspflichtig war. Er bekam also größtenteils Recht. Da er die Beiträge unter Vorbehalt gezahlt hatte, musste ihm die DRV einen großen Betrag zurückzahlen.

Begründungen zum Haareraufen

Ende gut, alles gut? Von wegen. Hier beginnt der zweite Teil der Geschichte, "der eigentliche Skandal", wie Bernd sagt. Zwar erkannte die DRV das erstinstanzliche Urteil an. Nach einer Woche hatte Bernd die zu viel gezahlten Beiträge auf seinem Konto. Was fehlte, waren die Zinsen für die zu Unrecht kassierten Beiträge. Diese sind ebenfalls zu zahlen, und Bernd erzählt, dass dies in der mündlichen Verhandlung auch deutlich gesagt worden sei. Er verlangte also die Zahlung der Zinsen. Die DRV zahlte nicht. Über die Begründungen konnten Bernd und sein Anwalt sich nur die Haare raufen: Einmal hieß es, der Antrag sei unvollständig gewesen, ein anderes Mal, es sei die Bankverbindung nicht angegeben gewesen. "Die Begründungen waren hanebüchen bis lächerlich", sagt Bernd.

In einem Brief habe die DRV auch beispielhaft ein Urteil mitgeschickt. Darin sei es um 50 Euro Zinsen in einem anderen Fall gegangen, für die die DRV durch alle Instanzen gegangen sei. Bernd googelte das Urteil: Die DRV hatte das Verfahren am Ende verloren. "Dieses Urteil in dem Brief fühlte sich an wie eine Drohung. Sie wollten mir wohl zeigen: Wir gehen auch für einen geringen Betrag durch alle Instanzen", erzählt Bernd.

Noch mal zwei Jahre Rechtsstreit für die Zinsen

Wieder musste Bernd klagen, um zu seinem Recht zu kommen. Diesmal hatte er nicht den geringsten Zweifel, im Recht zu sein – und musste trotzdem zwei weitere Jahre investieren. Bernd erzählt, dass auch das Sozialgericht der DRV Hinweise gegeben habe, dass diese das Verfahren verlieren werde. Trotzdem ließ die DRV es auf die mündliche Verhandlung ankommen. Das Verfahren endete im April 2023 mit einem Vergleich, in dem Bernd zu 96 Prozent Recht bekam. Die DRV zahlte damit nun auch die fast vollständigen Zinsen. Mit dem Vergleich ist ausgeschlossen, dass die DRV sich in weiteren Instanzen gegen die Zahlung wehrt.

Sieben Jahre nach dem ersten Bescheid kann Bernd endlich den Rechtsstreit hinter sich lassen. "Es ist aus meiner Sicht unsäglich, dass man den Rechtsweg beschreiten muss, und die Sozialgerichtsbarkeit über sieben Jahre beschäftigt ist, nur weil die DRV so eigenartig agiert", sagt Bernd. Die Verfahren in die Länge zu ziehen, scheint dabei bei der DRV Methode zu haben: Gleich zweimal erhob Bernds Anwalt Untätigkeitsklage gegen die DRV, weil diese nicht über einen Antrag beziehungsweise Widerspruch entschied.

Desinteressierte Politiker

Bernd ist bei den Grünen aktiv und nicht grundsätzlich gegen eine Pflicht zur Sozialversicherung eingestellt. "Ich beklage die Ungleichbehandlung unterschiedlicher Berufsgruppen", sagt er. Er nutzte auch seine Kontakte, um Abgeordnete auf die Situation aufmerksam zu machen: "Da kamen dann zwar freundliche Antworten von irgendwelchen Mitarbeiten, aber kein für mich greifbares Ergebnis."

Selbst ein Mensch wie Bernd, den das Verfahren nicht in existenzielle Not brachte, empfand den Rechtsstreit als große Belastung – jeder Brief der DRV im Briefkasten ein Stich im Magen. Immerhin müssen Betroffene vor Sozialgerichten selbst im Falle einer Niederlage nicht die Gerichtskosten fürchten. Die Verfahren sind in der Sozialgerichtsbarkeit grundsätzlich kostenfrei. Bernds Fazit und Rat an andere deshalb: "Wenn man das Gefühl hat, dass man wirklich im Recht ist, sollte man es durchziehen."

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