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Lesetipp "Fortentwicklung der Rechtsprechung" Die große Anti-Selbstständigen-Offensive der DRV

Musikschulen, Volkshochschulen, Universitäten: Die DRV hat für Lehrende aller Art ihre "Beurteilungsmaßstäbe präzisiert". Hier und in anderen Branchen gilt: Was jahrelang gängige Praxis war, wird plötzlich nicht mehr akzeptiert.

Musiklehrerin beim Unterricht – nur noch in Festanstellung möglich?

Manche Dinge brauchen ein bisschen Zeit, bis ihre ganze Tragweite sichtbar wird. Vor allem wenn sie solch sperrige Titel wie "Besprechungsergebnisse der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung" tragen, damit staubtrocken und zugleich irgendwie unverbindlich daherkommen und ohne großes Aufhebens an einer unscheinbaren Stelle im Internet abgelegt werden. Fast genau ein Jahr ist es jetzt her, dass für alle Selbstständigen, die in irgendeiner Form lehrend oder unterrichtend tätig sind, die Maßstäbe bei der Statusfeststellung verändert wurden. Doch die Auswirkungen zeigen sich erst allmählich.

"Besprechung des GKV-Spitzenverbandes, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Bundesagentur für Arbeit über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs am 04.05.2023" steht über dem Dokument, das sich auf einer Übersichtsseite der DRV mit allen "Besprechungsergebnissen" der vergangenen Jahre findet. In der rechten oberen Ecke findet sich der Vermerk: "Veröffentlichung: ja", die Überschrift zum Besprechungsinhalt lautet: "Versicherungsrechtliche Beurteilung von Lehrern und Dozenten".

Das "Herrenberg-Urteil" des BSG

Der Ausgangspunkt des Schriftstücks liegt sogar noch weiter zurück: Die Spitzenverbände beziehen sich auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juni 2022 (Az: B 12 R 3/20 R), das in Musikschul-Kreisen als "Herrenberg-Urteil" eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Das BSG hatte darin eine Musikschullehrerin, die als freie Mitarbeiterin mit Honorarverträgen an der Musikschule tätig war, als abhängig Beschäftigte eingestuft. Die Lehrerin sei weisungsgebunden in den Musikschulbetrieb eingegliedert gewesen und habe kein Unternehmerrisiko getragen. Die Lehrerin bekam ihre Schüler/innen zugewiesen, konnte sie nicht ablehnen und keine eigenen Kundenbeziehungen aufbauen.

Seine Sprengkraft bekommt das Urteil durch die Besprechung der Spitzenverbände. "Das Herrenberg-Urteil ist deshalb eine große Wende, weil die DRV aus einem Einzelfall generelle Kriterien für eine Prüfungsguideline gemacht hat", sagt Hans-Jürgen Werner, Justiziar des Deutschen Verbands für Tanzpädagogik – einem Berufsverband, der von den geänderten Maßstäben ebenfalls stark betroffen ist. Das sei ein aktueller Trend, den man gerade bei der DRV beobachte, sagte Rechtsanwalt Alexander Bissels, gerade in unserem Experten-Talk über aktuelle Urteile und Entwicklungen zur freien Mitarbeit: "Man versucht, diese Grundsätze auf ganz andere Berufsgruppen und ganz andere Tätigkeiten zu erweitern und dieses dann auch als abhängige Beschäftigung zu deklarieren."

Übertragung auf alle unterrichtenden Tätigkeiten

Die Spitzenverbände übertrugen die Prinzipien des Urteils generell auf Lehrberufe: "Lehrer/Dozenten/Lehrbeauftragte an Universitäten, Hoch- und Fachhochschulen, Fachschulen, Volkshochschulen, Musikschulen sowie an sonstigen – auch privaten – Bildungseinrichtungen" werden in dem Papier ausdrücklich aufgezählt.

Diese ständen in einem Beschäftigungsverhältnis, wenn die Arbeitsleistung – es folgt ein längeres Zitat –

"insbesondere unter folgenden Umständen erbracht wird:

  • Pflicht zur persönlichen Arbeitsleistung 
  • Festlegung bestimmter Unterrichtszeiten und Unterrichtsräume (einzelvertraglich oder durch Stundenpläne) durch die Schule/Bildungseinrichtung
  • kein Einfluss auf die zeitliche Gestaltung der Lehrtätigkeit 
  • Meldepflicht für Unterrichtsausfall aufgrund eigener Erkrankung oder sonstiger Verhinderung
  • Ausfallhonorar für unverschuldeten Unterrichtsausfall
  • Verpflichtung zur Vorbereitung und Durchführung gesonderter Schülerveranstaltungen
  • Verpflichtung zur Teilnahme an Lehrer- und Fachbereichskonferenzen oder ähnlichen Dienst- oder Fachveranstaltungen der Schuleinrichtung (dem steht eine hierfür vereinbarte gesonderte Vergütung als eine an der Arbeitszeit orientierter Vergütung nicht entgegen)
  • selbstgestalteter Unterricht auf der Grundlage von Lehrplänen als Rahmenvorgaben geht nicht mit typischen unternehmerischen Freiheiten einher. Die zwar insoweit bestehende inhaltliche Weisungsfreiheit kennzeichnet die Tätigkeit insgesamt nicht als eine in unternehmerischer Freiheit ausgeübte Tätigkeit, insbesondere wenn
    - keine eigene betriebliche Organisation besteht und eingesetzt wird
    - kein Unternehmerrisiko besteht
    - keine unternehmerischen Chancen bestehen, weil zum Beispiel die gesamte Organisation des Schulbetriebs in den Händen der Schuleinrichtung liegt und keine eigenen Schüler akquiriert und auf eigene Rechnung unterrichtet werden können, sowie die geschuldete Lehrtätigkeit nicht durch Dritte erbracht werden kann".

Aus zwei mach eins

Gerade beim letzten Punkt mit seinen Unterpunkten wird – wenn man sich durch die schwerverständlichen Formulierungen durchgearbeitet hat – deutlich: Das Element der Weisungsfreiheit rückt als Kriterium für Selbstständigkeit in den Hintergrund. Dabei sind in § 7 Absatz 1 des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB) ohnehin nur zwei Kriterien für die abhängige Beschäftigung genannt: die Weisungsgebundenheit und die Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Mangels Positiv-Kriterien für Selbstständigkeit muss aus diesen beiden Kriterien in einem Umkehrschluss die Selbstständigkeit definiert werden. Nun wird auch noch die Bedeutung des einen Kriteriums abgeschmolzen. Die Eingliederung in die Arbeitsorganisation bekommt überragende Bedeutung. Weisungsfreiheit wird restriktiv interpretiert, das Unternehmerrisiko betont – und an Elementen wie eigenen Räumlichkeiten und Arbeitsmitteln festgemacht.

"Lässt sich auf jegliche Solo-Selbstständigen übertragen"

Diese Entwicklung war auch im Pool-Ärzte-Urteil zu beobachten, über das wir Ende des vergangenen Jahres berichteten. Auch da spielte die inhaltliche Weisungsfreiheit der Ärzte für das Gericht nur eine untergeordnete Rolle. Das BSG und die Spitzenverbände erklären nun ausdrücklich, dass sie für Hochqualifizierte einen speziellen Blick auf die Weisungsgebundenheit haben: "Diese Weisungsgebundenheit kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur 'funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess' verfeinert sein", schreiben die Spitzenverbände in ihrem Papier. Insbesondere bei Hochqualifizierten könne "das Weisungsrecht stark eingeschränkt und dennoch die Dienstleistung fremdbestimmt sein".

Nach dem Pool-Ärzte-Urteil stellte Rechtsanwältin und Scheinselbstständigkeits-Expertin Kathi-Gesa Klafke verärgert fest: "Dem BSG genügt allein die Tätigkeit in fremden Räumlichkeiten und die Zusammenarbeit mit fremdem Personal. Das lässt sich auf jegliche Solo-Selbstständigen übertragen, die in fremden Räumlichkeiten tätig werden oder mit Dritten zusammenarbeiten, um ihren Auftrag zu erfüllen."

Bequemerer Weg, an die Beiträge zu kommen

Man habe die "Beurteilungsmaßstäbe präzisiert", heißt es in dem Besprechungspapier. Das klingt unscheinbar im Verhältnis zu dem, was die praktische Auswirkung auf Zigtausende Lehrende ist – an Musikschulen, aber auch an Volkshochschulen, in Fitnessstudios und Sprachschulen. Warum nun ausgerechnet diese Offensive in den Lehrberufen, die nach § 6 SGB VI ohnehin auch als Selbstständige rentenversicherungspflichtig sind? Zum einen kann man – siehe Ärzte-Urteile – beobachten, wie seit Jahren eine Branche nach der anderen stärker ins Visier der DRV genommen wird. Zum anderen wissen Unterrichtende oft nichts von ihrer Rentenversicherungspflicht. Der DRV entgehen so Beiträge, an die sie über den Arbeitgeber bequemer herankommt. Zuletzt sind viele selbstständige Unterrichtende in der Künstlersozialkasse (KSK) versichert, die zum Teil über einen Bundeszuschuss finanziert wird.

Was jahrelang gängige Praxis war, wird nun in vielen Fällen nicht mehr zulässig sein. Ironie an der Sache: Es ist in vielen Fällen die öffentliche Hand, die Lehrende in prekären Verhältnissen beschäftigt hat, mit schlechter Bezahlung und aneinandergereihten befristeten Arbeitsverträgen von nach der Sommerpause bis vor der Sommerpause. Die öffentliche Hand hat nun ihre eigenen Möglichkeiten, auf die veränderte Lage zu reagieren: Eine Kommune kann Geld zuschießen und Lehrkräfte fest anstellen.

Nicht Modell ändert sich, sondern Maßstäbe

Ganz anders sieht es für private Einrichtungen aus. Hier gibt es keinen Geldgeber im Hintergrund und das Budget ist oft knapp kalkuliert. Vor kurzem wandte sich eine kleine Münchner Sprachschule an uns. Sie hatte im Januar dieses Jahres einen Bescheid erhalten: 140.000 Euro Sozialbeiträge seien nachzuzahlen – für die kleine Schule nicht zu stemmen. Die Schule hatte seit ihrer Gründung mit freiberuflichen Sprachtrainern gearbeitet. "Wir hatten in 20 Jahren drei Betriebsprüfungen – ohne Beanstandungen", berichtet die Assistentin der Geschäftsführung. Am gelebten Modell habe sich nichts geändert – nur an der Beurteilung durch die Betriebsprüfer.

In diesem privaten Bereich sind Selbstständige nicht nur Auftragnehmer, sondern oft auch Auftraggeber: Dies kann beispielsweise eine selbstständige Musikerin oder Tänzerin sein, die Kurse gibt und dafür mehrere andere Selbstständige beauftragt. Sie wäre nun Arbeitgeberin und verlöre damit ihren KSK-Status.

Noch kein Niederschlag in der Statistik

Ein weiterer Fall begegnete uns in den Medien: Ein niederbayerischer Kleinverlag steht wegen einer Neubewertung durch die DRV vor dem Aus. Hier handelt es sich zwar nicht um Lehrkräfte, auffällig ist jedoch die Parallele: Was drei Jahrzehnte akzeptiert wurde, bewertet die DRV plötzlich anders – obwohl die Betroffenen nichts anders gemacht haben und sich die Gesetzeslage nicht geändert hat. Auch in Gesprächen mit anderen Verbänden hören wir die Einschätzung, dass es derzeit eine Tendenz gebe, Verfahren anders zu bescheiden als früher.

Statistisch nachweisen lassen sich die Einzelbeobachtungen (noch) nicht. In den Statusfeststellungsverfahren der DRV wurden in den vergangenen Jahren recht gleichmäßig etwa zwei Drittel der Entscheidungen zugunsten der Selbstständigkeit getroffen. 2023 gab es nach Auskunft der DRV 23.000 geprüfte Statusfeststellungsanträge. Bei 15.000 davon wurde Selbstständigkeit festgestellt. 

Solidarität in der BAGSV

Angewendet werden die neuen Maßgaben jedoch schon. In dem Besprechungspapier heißt es: "Diese präzisierten Beurteilungsmaßstäbe finden – auch in laufenden Bestandsfällen – spätestens für Zeiten ab 01.07.2023 Anwendung." Dieser Passus sorgt für besonders viel Verunsicherung – schließlich werden derzeit noch viele Fälle aus den vergangenen Jahren geprüft.

Wir spüren diese Verunsicherung derzeit in der BAGSV, wo wir einen Zulauf von Verbänden aus dem Trainingsbereich haben. Hier wollen wir verbändeübergreifend solidarisch unterstützen. Denn diese Entwicklung erscheint uns über die betroffenen Branchen hinaus hochproblematisch – wer weiß, wer als nächstes "dran" ist.

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